Im März 1999 bat mich eine Freundin, sie bei Ihrer Pferdesuche zu begleiten und zu beraten. So fuhren wir an einem regnerischen Märztag ins Elsass auf ein Arabergestüt, wo mehrere Pferde zum Verkauf standen. Der Besitzer des Gestüts „du Florival“ sattelte 4 Pferde und wir machten uns zu acht – also vier Pferde und vier Menschen – auf ins hügelige Gelände. Unterwegs wurde so gewechselt, dass meine Freundin jedes der vier Verkaufspferde geritten hatte. Einen Reitplatz gab es nicht.
Starke Armmuskeln – echt jetzt?
Ich ritt zuerst einen kleinen hübschen Hengst, wechselte danach auf einen Rotfuchs – Wallach. „Hast Du starke Armmuskeln?“, war die Frage, bevor er mir überreicht wurde. Eigentlich pflege ich nicht den Armmuskeln zu reiten, aber was blieb mir anderes übrig? Er war keine Schönheit, mager und grobknochig mit dickem Bauch und tiefen Löchern über den Augen. Aber sein Gesicht war mir schon ganz am Anfang aufgefallen – sein Blick hatte mich berührt.
Hier wurde anders geritten als ich das gewohnt war, Renngalopp über Schotterwege, Trab gabs nicht. Mein Herz war mir schon längst in die Hose gerutscht und ich dachte mir: laufen lassen, die kennen das…. Ich liess also auch Ibson so gut wie möglich laufen, bremste ihn mehr mit dem Vorderpferd als mit den Zügeln – und da stellte sich ein ganz unbekanntes und wunderschönes Gefühl ein. ER TRÄGT MICH!
Ich wollte gar nicht mehr absteigen, es war einfach toll.
An diesem Abend fuhren wir nach Hause und es war klar, dass meine Freundin kein Pferd gefunden hatte, ich aber jetzt ein Problem hatte.
Wie ein Teenie
Mein erster Gedanke am morgen galt diesem Pferd und er letzte am Abend. Mein Lebenspartner wollte von einem zweiten Pferd nichts wissen. Er oder ich, so seine Devise. Ich träumte von dem feurigen Fuchs, der mich auf dem Reitplatz und im Gelände zu glücklichen Momenten tragen würde.
Ein schrecklicher Zustand – am Geld lags nicht, davon war genügend da damals. Am ersten Mai sollte auf dem Gestüt eine Verkaufsschau stattfinden. Ich vereinbarte mit mir selbst, diesen Termin verstreichen zu lassen und danach nochmals anzurufen und zu fragen, ob ER noch da wäre.
Er war noch da… Ich musste ihn nochmals sehen und mir darüber klar werden, was das sollte. Ich vereinbarte einen Termin am Pfingstsamstag. Ich bat darum, mit ihm alleine ins Gelände zu reiten. Er konnte kaum laufen, weil er total abgelaufene Hufe hatte von einem Wanderritt, den er kürzlich absolviert hatte. „Er hat gute Gänge, er läuft auch am Ende eines langen Tages noch schnell“, meinte der Verkäufer. Ich konnte seine Gänge überhaupt nicht beurteilen, weil Rennen nichts mit Gangqualität zu tun hat für mich und er ja jetzt ging wie auf Eiern.
Bist Du mein Pferd?
Wir schlenderten also durch den Wald, immer den weichen Wegrand suchend, und ich stellte mir und ihm innerlich Fragen. Bist Du mein Pferd? Keine Reaktion, also bei mir innendrin. Was machen wir da? Keine Reaktion. Und so fort. Ich war schon vollkommen ratlos. Das Gefühl des Getragen-Seins wollte sich auch nicht wieder einstellen.
Da fragte ich: Soll ich Dich dalassen? Sofort schossen mir Tränen in die Augen.
Dalassen also nicht, dann kaufen? Trotz allem? Mit meinem Lebenspartner hatte ich einen Deal vereinbart, hatte ein separates Budget für Ibson und versprochen, dass ich dafür sorgen würde, dass er nicht mehr Familienzeit verschlingt als eh schon normal war bei mir. Ich würde ihn sonst in Ausbildung geben oder Reitbeteiligungen suchen.
Am Pfingsmontag kam er an
Ich hatte eine verlängerte Probezeit ausgehandelt, weil ich ihn ja nicht wirklich probereiten konnte auf dem Gestüt mit seinen abgelaufenen Hufen und ohne Reitplatz. 30 Tage hatte ich Zeit, zu entscheiden. Er spazierte auf die Weide mit einer Selbstverständlichkeit, die einer Freundin den Satz entlockte: „Du siehst schon, dass er da nie wieder weggeht, oder?“
Bei der Ankaufsuntersuchung reagierte er auf sämtliche Beugeproben. Also Röntgenbilder. Zwei Gelenke geröntgt, zwei Chips (Knochensplitter) gefunden. Die Sprunggelenke liessen wir dann… Der Tierarzt erklärte mir, dass es russisches Roulette sei, dieses Pferd zu kaufen. Ich hatte mir jedoch vor genommen, ihn zu kaufen, wenn er nicht jetzt schon Einschränkungen hat, die verunmöglichen, dass er schmerzfrei bei mir 20 werden könnte. Der Verkäufer wollte dann aufgrund der Röntgenbilder erst Salami aus ihm machen, ging dann aber – natürlich – auf mein Angebot des reduzierten Preises ein.
Ernüchterung
Da hatte ich nun also das Pferd meiner Träume und nichts von dem, was ich mir ertäumt hatte, schien einzutreffen. Auf dem Reitplatz war er hart wie ein Stück Holz und sehr sensibel. Wenn ich innerlich unzufrieden war mit mir oder ihm oder der Welt, machte er zu. War weg, nicht mehr für mich erreichbar. Er lief trotzdem, mit Vorliebe schnell und wehrte sich auch nie anders als durch den Kopf hochreissen, es war aber dennoch total unbefriedigend für mich.
Die Reitbeteiligungen gaben immer wieder auf, weil er im Gelände dazu neigte, durchzugehen. Ich wurde unverhofft nochmals schwanger mit unserer Tochter Lia und das machte mein Zeitmanagement auch nicht besser. Auch blieb er eher reserviert, kein Schmuser – schade!
Ich überlegte mir, ihn zu verkaufen, hatte sogar eine tolle Interessentin, die ihn an einem Kurs gesehen hatte, aber schlussendlich brachte ich es nicht übers Herz. Körperlich und psychisch ging es ihm immer besser. Mir war anfangs nicht klar gewesen, wie angeschlagen seine Psyche gewesen war. Er war nach einem Unfall als 5 jähriger kastriert worden und hatte offensichtlich Mühe, sich als Wallach zurecht zu finden. Er wäre sehr hengstig gewesen vorher, sagte uns der Züchter. Ibson wurde mit der Zeit der Ranghöchste unserer Offenstallgemeinschaft und nach kurzer Zeit war er ein fairer und sanfter Chef.
Mit Druck geht nix
Ich hatte verstanden, dass Druck bei ihm zum „Stück Holz-Syndrom“ führt und probierte andere Wege. Immer wieder wurde mir klar, dass er sich dabei ähnlich verhält wie mein Sohn Jan. Dieses Wissen half mir oft in Situationen, in denen ich mit Jan nicht mehr weiterwusste. Wenn etwas ähnliches bei Ibson nicht funktionierte, dann würde es das bei Jan auch nicht tun.
Meine Stute Penta hatte dauernd irgendwelche Krankheiten und Lahmheiten. Ohne Ibson als zweites Pferd, dem es immer besser ging, wäre ich wohl überzeugt gewesen, dass ich alles falsch mache und zur Pferdebesitzerin einfach nicht tauge.
Er hat mich getragen, die ganze Zeit
Mit einem Schlag fiel es mir wie Schuppen von den Augen, da war er schon bestimmt 8 Jahre bei mir. Er hat mich getragen, durch sehr schwierige Zeiten, allerdings mehr psychisch als physisch – und ich habs nicht wirklich bemerkt.
Ich hatte andere Vorstellungen und Erwartungen gehabt, dachte, wir müssten die Versammlung lernen und piaffieren oder sonstige reiterliche Highlights erreichen. Nichts dergleichen.
Aber er hat alles mitgemacht, war immer für mich da, hat mich gelehrt, den Druck, den ich mache, zu reflektieren. Er wurde gesünder, er hat in den Reitstunden geduldig Kinder und Behinderte getragen. Er hat mir unbeschwerte Stunden bereitet auf langen Ausritten und nachdem ich meine geliebte Penta einschläfern lassen musste, war das für mich der beste Weg gewesen, damit Frieden zu schliessen. Er hat mich auch da getragen.
Ohne ihn hätte ich manche Entscheidung anders getroffen, von der ich heute überzeugt bin, dass sie goldrichtig war. Er hat mir so sehr geholfen. Und dann:
Bestimmt kein Kinderpferd – oder?
Und dann kam die Zeit, als unsere Tochter Lia begann, sich mit ihm abzugeben. Lange lange Spaziergänge mit vielen Fresspausen haben die beiden anfangs gemacht. Lia war 8 Jahre alt. Dann kam das Reiten dazu, erst mit, dann ohne Longe. Ich hätte nie gedacht, dass Amir, wie wir ihn inzwischen nennen, mit einem Kind so harmonieren würde. Aber die beiden haben sich gefunden. Ich habe ihn Lia zu ihrem 10. Geburtstag geschenkt. Hier kann er Nummer 1 sein, von ihr bekommt er die viele Zeit, die ich nicht hatte.
Ein Herz und eine Seele sind die beiden – Amir ist am nun am 30. März 2016 23 Jahre alt geworden. Es plagt ihn etwas Arthrose, die Chips haben sich nicht bemerkbar gemacht. Er ist nach wie vor der umsichtige Chef unserer grossen gemischten Gruppe. Und Lias Ein und Alles.
So haben sich die inneren Antworten auf meine Fragen auf meinem Ritt am Pfingstsamstag 1999 alle bestätigt, er ist nicht „mein“ Pferd – und doch war es so wichtig für uns alle, ihn nicht dortzulassen. Dank Amir weiss ich was das ist, Liebe, die trägt. Sogar wenn ich es lange nicht bemerkt habe. Danke Amir! Tausend mal Danke!
Das ist eine wunderschöne Geschichte. Ich bin ganz bewegt. Ein Glück für euch beide, dass du dich damals für den Kauf entschieden hast.
Wow. Das hat mich echt berührt und es erinnerte mich so sehr an mein erstes ganz eigenes Pferd, die immer noch bei mir ist. Sie ist nicht das, was ich zu Anfang mir erhofft hatte, aber sie macht alles mit. Egal, was passiert, ich kann mich auf sie verlassen und ich weiß, dass sie mein Pferd ist. Von Anfang an habe ich es gewusst. Schön, dass Amir bei euch sein zu Hause gefunden hat. Nicht jedes Pferd hat dieses Glück irgendwo anzukommen.